Hallo aus Hamburg,
kommt der Zug? Wann kommt er? In welcher Wagenreihung kommt er?
Funktioniert das Bordrestaurant oder besorge ich mir gleich einen Kaffee? Jeder Bahnreisende kennt diese Unsicherheit im Umgang mit dem angeschlagenen Großakteur der Mobilitätswende. Der jüngste und längste Streik in der Bahngeschichte ging dann selbst den Streikenden zu weit, sie brachen vorzeitig ab.
Interessant ist die Beobachtung, dass sich die überwältigende Mehrheit der Bahnnutzer nicht mehr aufregt über Verspätungen, Zugausfälle oder defekte Bordbistros. Die Aufregung ist Fatalismus, Gelassenheit und (Galgen-) Humor gewichen. Schmunzeln statt explodieren, wenn selbstreflektierte Zugbegleiterinnen Durchsagen mit Kultstatus machen: „Nun, auch diesmal werden wir unser Ziel erreichen. Die Frage ist nur wann.“ Oder: „Wir stehen vor einem roten Signal, weil der Abschnitt vor uns von unserem Vorzug besetzt ist. Davor steht der Vorzug unseres Vorzuges. Wie Sie sehen, ist die Bahn ein System mit vielen Vorzügen.“ Oder: „Die Weiterfahrt verzögert sich, weil der Sicherheitsdienst unseren Lokführer nicht erkannt und ihn mitgenommen hat.“ Neulich, in einem verspäteten, wegen Ausfalls anderer Züge überfüllten ICE vom Frankfurter Flughafen, machen sich Menschen aus aller Damen und Herren Länder Platz, packen bei im Gang stehenden Koffern mit an, kommen ins Gespräch und nehmen Rücksicht aufeinander.
Schicksalsgemeinschaft und Gelassenheit statt Ellenbogen und Wutausbrüche. Im Verständnis füreinander vereint haben Fahrgäste und Zugbegleiter akzeptiert, dass 2023 nur 64 Prozent aller Züge im Fernverkehr pünktlich waren – Zugausfälle nicht mitgerechnet. Bauarbeiten auf der Strecke, Störungen am Zug, Ausfall von Stellwerken, kurzfristiger Personalausfall sind inzwischen Normalität. Dass sich dieser Zustand bei einem Erneuerungsbedarf in Höhe von mittlerweile 90 Milliarden Euro bei Gleisen, Brücken, Tunnel, Stützen, Steuer- und Sicherheitseinrichtungen nicht von heute auf morgen beseitigen lässt, ist mittlerweile fast jedem bewusst. Hinzu kommen Beeinträchtigungen durch Streiks, Starkwetterereignisse, Personen auf dem Gleis und Polizeieinsätze, die die Bahn nur eingeschränkt beeinflussen kann. Wir haben verstanden, dass wir mit diesen Zuständen in den kommenden zehn bis 15 Jahren werden leben müssen. Vergleiche mit der Zuverlässigkeit von Zügen in Japan und der Schweiz hinken: Ein Schienennetz in einem (teil-) geschlossenen Insel- oder Bergstaat lässt sich nun mal nicht mit einem 34.000 Kilometer langen Schienennetz in einem Land mitten in Europa mit Anschlüssen in alle Himmelsrichtungen vergleichen.
Bei all dem hilft das Jammern über die unbestreitbaren Versäumnisse der Vergangenheit in Sachen Sanierung wenig. Stattdessen planen wir Zeitpuffer ein. Wir überlegen, welche Reise wir wirklich brauchen. Wir verlassen uns nicht auf Durchsagen und Anzeigen. Wir improvisieren und werden kreativ, wenn ein Zug im Nahverkehr ausfällt und ziehen alternative Fortbewegungsmittel in Betracht. Wir rechnen damit, dass es einen Zug geben wird, egal wann wir zum Bahnhof gehen: wegen der Verspätung eines vorangegangenen Zugs sogar oft früher als gedacht. Es ist eine Frage der Einstellung und Anpassungsfähigkeit, wie wir mit diesen und allgemein mit Unsicherheiten umgehen.
Der einzige Akteur im täglichen Mobilitätswirrwarr, der dieses neue Normal noch nicht verstanden zu haben scheint, ist die Bahn selbst. Sie erhebt immer noch Pünktlichkeit zum Maßstab ihres Tuns, indem sie Statistiken dazu veröffentlicht oder einen Fahrplan herausgibt. Statt einem alten Traum nachzuhängen, Berechenbarkeit zu suggerieren und damit die neue Gelassenheit zu untergraben, sollte sie den Fahrplan ganz abschaffen – und Bahnbuchungen und Auskünfte wenige Stunden vor dem gewünschten Reiseantritt über die App ohne Preisdifferenzierung zwischen Früh- und Spätbuchern und ohne Zugbindung zu angemessenen Preisen ermöglichen. Zugkapazitäten über die gewonnenen Daten anpassen. Zügig Warteräume an Bahnhöfen schaffen und einladend gestalten. Für diejenigen, die sich mit Apps schwertun, eine Servicehotline ohne Warteschleifen einrichten, die ihren Namen verdient.
Der Zustand der Bahn ist zu einem spannenden Lehrstück für den Umgang mit Unsicherheit geworden. Verunsicherung erleben wir dann, wenn sicher Geglaubtes wegfällt. Also warum nicht die Unsicherheit als Normalität annehmen und sich positiv überraschen lassen, wenn es besser kommt?