Zwischen Karmaheft und Robustheit

In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit wächst der Widerspruch zwischen steigenden Ansprüchen von Mitarbeitenden und den Herausforderungen der Unternehmensführung. Wie führt man ein Unternehmen, das trotz Krisen zunehmend nach Wohlfühlatmosphäre und Selbstverwirklichung strebt?

Hallo aus Hamburg,

neulich berichtete mir ein Personalverantwortlicher, sein Unternehmen habe auf Initiative von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Karmaheft eingeführt, um die Wertschätzung am Arbeitsplatz zu steigern. Wer seinen Kollegen eine Anerkennung zusprechen will, sammelt Wertschätzungspunkte in einem Stickeralbum. Am Ende des Jahres zeige sich dann, wer die Punktekönigin sei. 

So sehr sich mein Gesprächspartner für Wertschätzung in der Belegschaft einsetzt, so sehr wundert er sich über das kindliche Instrument (es erinnerte ihn an die Fleißbienchen im Grundschulheft) und die Hingabe, mit der sich nun eine Arbeitsgruppe mit fünf Arbeitsstunden pro Woche um die Gestaltung des Albums kümmert – während gleichzeitig die wirtschaftlichen Herausforderungen zunehmen, mit denen das Unternehmen in der derzeitigen Krise fertigwerden muss. Es folgen weitere Ansprüche, zum Beispiel zum leidigen Thema Homeoffice. Bemühungen der Unternehmensleitung, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vermehrt ins Büro zurückzuholen, scheitern an entwaffnend offen geäußerten Argumenten wie: „Ich komme mit dem Haushalt nicht hinterher, wenn ich mehr ins Büro kommen muss.“ Und: „Wir fühlen uns eher so, als würden wir gerne am Strand auf Fuerteventura arbeiten.“

Das ist kein Einzelfall, wenn ich zurzeit in Unternehmen hineinhorche. Eine für zwei Wochen krankgeschriebene Mitarbeiterin: „Ich muss wieder gesund werden, denn nächste Woche fahre ich ja in Urlaub.“ Die Antwort eines Mitarbeiters auf die Frage seiner Führungskraft nach dem Warum einer Gehaltserhöhung: „Ich habe in den letzten Monaten intensiv meine Arbeit gemacht.“ Vertriebsmitarbeiter, die ungeachtet der Verfehlung gemeinsam vereinbarter Ziele empört sind über die niedriger ausfallende Tantieme: „Ich habe alles gegeben und jetzt so etwas.“ Führungskräfte, die ihren unternehmensbezogenen Bonusbestandteil hochzurechnen versuchen, weil das Jahr 2023 nach langen auskömmlichen Jahren erstmals umsatz- und margenschwächer auszufallen droht. Dass ein variabler Gehaltsbestandteil nicht nur in guten, sondern auch in schlechten Zeiten variabel ist, scheint außerhalb des Vorstellungsvermögens zu liegen. Und der Kommentar zum jüngsten Streik der Lokführer war nicht selten: „Wir sollten auch für eine 35-Stunden-Woche demonstrieren und die Arbeit verweigern.“


Diesen krassen Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Realität und der Stimmung in Unternehmen beobachte ich immer öfter. Auf der einen Seite wird in vielen Unternehmen angesichts der derzeitigen Kumulation von Krisenphänomenen das Unterste zuoberst gekehrt, werden Geschäftsmodelle auf den Kopf gestellt, Kosten gesenkt, die Effizienz gesteigert, ins Ungewisse investiert und versucht, mit dem Umsatz- und Renditerückgang klarzukommen. Unternehmensleitungen und Führungskräfte stehen dabei unter erheblichem Druck, oft jenseits ihrer Leistungsgrenze. Auf der anderen Seite erlebe ich hohe Ansprüche von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an ihre Organisationen, eine Konzentration auf die eigenen Bedürfnisse und Vorteile, abgekoppelt von den unternehmerischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die wir erleben.

Wie passt das zusammen? Ist das Realitätsverweigerung und Rückzug ins Private angesichts einer Welt, die durch Krieg, Krise und Klimawandel durchgeschüttelt wird? Oder ist es insgeheim vielleicht sogar Ausdruck des Wunsches nach mehr Orientierung durch eine klarere Führung, die Grenzen setzt? Welche Verantwortung tragen wir als Führungskräfte an dieser Schonhaltung? Sind wir in den vergangenen Jahren aus Angst vor dem Verlust guter Leute so sehr auf Bedürfnisse eingegangen, dass wir die Kollegen zur paralysierenden Beschäftigung mit sich selbst regelrecht eingeladen haben?


Vielleicht hilft es, wenn wir transparenter machen, vor welchen schwierigen Entscheidungen wir stehen, und wenn wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker zu Mitverantwortlichen machen. Vielleicht stärkt das Robustheit – um nicht die überstrapazierte Wortblase Resilienz zu verwenden. Robustheit bei Mitarbeitenden, die anerkennen, dass die Wirklichkeit Realitätssinn, Maßhalten, Zusammenstehen und gelebte Solidarität mit dem Unternehmen und den Kolleginnen und Kollegen erfordert: Wertschätzung auch ohne Karmaheft. Aber es geht auch um Robustheit bei Führungskräften, die daran erinnert werden sollten, dass Führungsarbeit gerade in schwierigen Zeiten bedeutet, Widerstand zu erzeugen und auszuhalten, Stillstand entgegenzutreten und Prügel einzustecken.


Bin ich auf dem Holzweg mit meiner Beobachtung, dass die Sehnsucht nach der Wohlfühloase Arbeitsplatz zunimmt? Und wenn nicht, worauf führst du das zurück?

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