Hallo aus Hamburg,
die Unsicherheit füllt den Raum: „Was ist im Unternehmen los?“, fragen sich die Mitglieder des Beirats, während die Geschäftsführung erklärt, warum die Umsetzung der Strategie nicht gelingen will. Es ist die Rede von Sondereffekten, die alle Führungskräfte in operative Feuerlöscheinsätze zwingt: Nachwirkungen der Corona-Pandemie, Lieferengpässe, Qualitätsprobleme, Inflation, Preissteigerungen. Es kursieren unterschiedliche Zahlen über den Stand der Liquidität – je nachdem, wie man es rechnet. Warum die Fluktuation gerade unter jungen Führungskräften erschreckend hoch ist? Die neue Generation sei nicht bereit, sich zu binden. Alle in der Branche hätten damit zu kämpfen.
Jede dieser Aussagen ist für sich genommen nicht falsch. Aber sie ergeben in Summe keinen Sinn. Alles wahr, nichts richtig. Genauer einschätzen kann ein Beirat die Sache nicht, weil er zu weit weg ist vom Tagesgeschäft. Es bleibt das mulmige Gefühl, dass das Management nur Symptome beschreibt.
Dass ein Sachverhalt unterschiedlich gedeutet wird, ist normal. Jeden Tag bauen wir uns aus vielen Informationsschnipseln ein Bild. Und dabei, so hat der Verwaltungswissenschaftler Gunnar Folke Schuppert in Erinnerung gerufen, neigt das Sozialwesen Mensch dazu, aus der Vielfalt von Nachrichten und Ereignissen eine plausible Geschichte zu stricken. In der Regel als unbewusste Taktik, um Komplexität zu reduzieren. Das war so an den wärmenden Lagerfeuern der Jäger und Sammler, in den Karawansereien der alten Seidenstraße. Und ist heute der Fall in den sozialen Medien und im Unternehmensalltag als Flurfunk in der Kaffeeküche. Im Extremen entstehen Verschwörungstheorien, die eigentlich Verschwörungserzählungen sind. Diese blenden Urteilsvermögen aus und machen aus Erzählungen Tatsachen. Eben Fake News.
Als Historiker habe ich gelernt, dass jede Generation Geschichte neu schreibt. In meiner Promotion habe ich mich mit einem Publizisten im 17. Jahrhundert beschäftigt, der gegen die Expansionspolitik des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. anwetterte. Unter Historikern am Ende des 19. Jahrhunderts erfreute sich diese Figur großer Beliebtheit – damals war eine antifranzösische Haltung verbreitet. Einhundert Jahre später, als ich meine Promotion schrieb, las ich andere Wahrheiten aus den Texten. Aufgewachsen mit dem Narrativ der deutsch-französischen Freundschaft als wichtigstem Pfeiler des vereinten Europas korrigierte ich die Deutungen meiner Historikervorfahren.
Zurück zu der eingangs geschilderten Suche des Beirats nach dem Kern des Problems. Eine Serie von Interviews mit Fach- und Führungskräften zeigte bald: Es gab kein gemeinsames Verständnis darüber, wohin das Unternehmen steuert. Das war nichts anderes als ein eklatantes Führungsdefizit, und es wurde offensichtlich, was zu tun war: Es musste gemeinsam eine Strategie erarbeitet werden, die das Zeug hatte, zu einer Bewegung im Unternehmen anzuwachsen und die Zusammenarbeit zwischen Beirat und Geschäftsführung neu zu definieren. Klar war auch: Ein Wechsel in der Unternehmensleitung war fällig.
Der schwerste Part dabei ist: das Ringen um ein gemeinsames Bild, das die zahlreichen Informationen und Deutungen ersetzen kann. Dabei hat erst einmal niemand den Vorsitz, sondern alle hocken um ein Lagerfeuer und erarbeiten gemeinsam, was die künftige Erzählung sein wird. Gegen die Unsicherheit hilft Offenheit gegenüber dem Flurfunk, der durchaus zum Treiber des Neuen werden kann. Mir scheint, dass wir dem Homo narrans mehr Aufmerksamkeit schenken sollten als dem Homo oeconomicus.
Wie gehen Sie mit den unterschiedlichen Deutungen um, denen Sie täglich begegnen? Wie finden Sie in Ihrem Unternehmensalltag heraus, was der Kern der Sache ist und schaffen die Grundlage für wirksames Handeln? Ich freue mich auf Ihre Gedanken dazu