Hallo aus Hamburg,
Kürzlich stöberte ich in dem Buch „Uncertainty and its Discontents“ von Peter Katzenstein, Professor für Internationale Politik an der Cornell University. Katzenstein macht sich Gedanken darüber, dass seine Zunft in Kategorien von linearen Weiterentwicklungen der internationalen Mächtepolitik, von logischen Ursache- Wirkungsketten und von der Überzeugung eines Gleichgewichts der Kräfte her denkt und handelt. Kein Wunder, so Katzenstein, dass viele Politikwissenschaftler von zuvor unmöglich gehaltenen Ereignissen einer Pandemie oder eines Aggressionskriegs Russlands in der Ukraine überrascht wurden. Nun reiben sich Experten genauso die Augen wie die große Mehrheit der Menschen im Westen Europas und den USA. Selbstkritisch meint Katzenstein: Wir beschäftigen uns lieber mit der Gartenarbeit, wo wir uns auskennen, einen klaren Rahmen haben und eingeübten Methoden folgen, als dass wir uns in den Dschungel begeben, wo Unbekanntes und Undenkbares drohen.
Katzenstein bildet eine anregende Analogie zur Physik, die seines Erachtens viel weiter im Umgang mit Unsicherheit sei. Mit dem Aufkommen der experimentellen Physik und der Erforschung subatomarer Strukturen seit Ende des 19. Jahrhunderts habe man schon lange die Mechanik des Newtonschen Weltbildes von Ursache- und Wirkung verlassen. An dessen Stelle sei die Quantenmechanik getreten, die sich mit Elektronen, Quarks, Photonen und Higgs-Teilchen beschäftigt. Diese Teilchen sind nicht real wie kleine Kieselsteine, sondern eher sich bewegende winzige Wellen. Einstein beschäftigte sich mit der unsichtbaren Welt der Energie, in der Zufall herrscht. Quantenphysiker stellten über Experimente fest, wie sehr diese neue Welt allen rationalen Erklärungsversuchen trotzte und zugleich große Fortschritte bringt. Das Quantencomputing mit gewaltigen Rechnerleistungen, das die binären Strukturen der derzeitigen Programmierwelt ablöst, ist ein Beispiel für solche Entwicklungssprünge. Fazit von Katzenstein: „So gesehen ist die Welt keine kausale Maschine, sondern kreativer Generator sich entfaltender Neigungen und Möglichkeiten…, ein rastloses Wimmeln von Ereignissen.“
Jenseits von Physik und Politikwissenschaften denke ich an unseren Unternehmensalltag. Nicht Zwänge und Notwendigkeiten, sondern Ungewissheit, Unkontrollierbarkeit und Unbestimmtheit bilden die tägliche Normalität. Nicht nur für die, die sich mit der Zukunft von Geschäftsmodellen beschäftigen, sondern alle Kollegen und Mitarbeiter spüren eine große Unruhe und Unsicherheit. Ich nehme eine seltsame Mischung aus „business as usual“ – wenn ich den Vorstellungen des Betriebsrats über die anstehende Gehaltserhöhung zuhöre – und Orientierungslosigkeit – wenn derselbe Betriebsrat bohrende Fragen nach dem Kurs des Unternehmens stellt. Wir versuchen der Lage Herr zu werden, indem wir von „kalkulierbaren Risiken“ sprechen (ist das nicht ein Widerspruch in sich?), um „Szenarienplanungen“ bitten (die immer nur von dem ausgehen können, was wir wissen) und uns in die Gartenarbeit des Operativen flüchten, wo wir uns auskennen.
Das alles ist Ausdruck des Nachtrauerns nach den alten Logiken des Newtonschen Weltbilds, der Sehnsucht nach Gewissheit und Kausalität. Derweil ist eine Zeit angebrochen, die von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten geprägt ist, von Wellen und Zufall statt Linien und Kontrolle. Jetzt ist die beste Zeit, Neues zu schaffen. Radikale Entscheidungen zu treffen. Unerledigte Hausaufgaben abzuschließen. Unternehmensstrategien auf den Prüfstand zu stellen. Hypothesen zu bilden, diese nach einiger Zeit erforderlichenfalls wieder über den Haufen zu werfen. Die Organisation zu ertüchtigen, neugierig zu sein, sie mit Antennen für das Undenkbare auszustatten. Katzenstein empfiehlt Demut, Nachdenklichkeit und den Mut zum Eingeständnis Mitarbeitern gegenüber, dass wir es auch nicht wissen.
Gleichzeitig besteht die Notwendigkeit, Gewinne und Profit zu erwirtschaften. John Kotter spricht von zwei Betriebssystemen, in denen Unternehmen zurzeit leben: eines in dem wir Neues schaffen, und eines in dem wir Bestehendes weiter optimieren, um das Geld zur Finanzierung des ersten zu erwirtschaften. Keine einfache Aufgabe, zwei Kulturen unter einem Dach zu leben.