Hallo aus Hamburg,
Danke für die vielen Reaktionen auf die September-Ausgabe des Newsletters zur Generation Z, die per E-Mail, auf LinkedIn und sogar per Post eintrafen. Die brandeins-Newsletter wollen eine lebhafte Kontroverse unter Lesern auslösen. Deswegen folgt hier ein Link zu meinem Newsfeed auf LinkedIn. Teilt doch gerne eure Meinung auf dieser Plattform und macht sie für alle sichtbar.
Die rasante Veränderung der Gesellschaft durch Migration macht die Überforderung unserer öffentlichen Verwaltung sichtbar. Im Umgang mit einem Kriegsflüchtling zeigt sich Hilfsbereitschaft genauso wie Hilflosigkeit. Die Lösung ist klar, der Weg steinig.
Keine Sorge: Dies wird keine Bürokratieschelte. Das wäre zu simpel. Mich macht es eher nachdenklich zu sehen, wie Behörden mit den derzeitigen Unsicherheiten ringen und sich als überfordert erweisen. Ich erlebe die Probleme der Ämter seit Monaten am Beispiel der jungen Mutter Anna, die mit ihrem einjährigen quirligen Sohn Martin im April aus Butscha in der Ukraine, 25 Kilometer nordwestlich von Kiew, nach Deutschland kam und drei Monate in unserer Familie lebte, bevor sie ihre eigene Wohnung bezog.
Ich habe viele positive Erfahrungen mit engagierten Sachbearbeitern und unbürokratischen Lösungen gemacht: die Auszahlung von Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sofort nach der Einreise, bar auf die Hand und ohne große Antragsformalitäten; ein ins Ukrainisch übersetzter, so gar nicht bürokratisch formulierter Willkommensgruß; Anteilnahme und Hilfsbereitschaft bei Mitarbeitern im Jobcenter, die geduldig unverständliche Formulare erklären. Allerdings waren wir auch eine Freude für unser Gegenüber: „Wie gut, dass Sie Deutsch sprechen. Ich habe gerade eine Stunde mit einer Ukrainerin verbracht, um ihr eine E-Mail-Adresse zu buchstabieren, über die wir beim nächsten Gespräch Google Translate aktivieren können, um ihr Anliegen aufzunehmen. Sie kann ja nichts dafür, dass sie weder Deutsch noch Englisch kann, aber es ist eben mühsam.“
Auch kuriose Situationen gab es, wie das Gespräch mit jenem Sachbearbeiter, der mir sein Herz ausschüttete, dass er sich hin- und hergerissen fühlt zwischen seiner Sozialisierung als Wehrdienstverweigerer in den Achtzigern und der Tatsache, dass er nun Sympathie für Waffenlieferungen in die Ukraine verspürt, und der sich große Sorgen um den Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft angesichts der steigenden Inflation und Energiepreise macht.
Kuriositäten begegnen mir viele. Siebenseitige Formulare mit Fragen an Anna wie: „Wohnen Sie im Eigentum?“ oder „Welche Einkommen erzielen Sie aus Kapitalanlagen?“ Für einen Kriegsflüchtling eher absurde Fragen, ähnlich wie die Anforderung, dass der im Krieg befindliche Ehemann und Vater des Kindes eine Vaterschaftserklärung beibringen und seine Einkommenssituation darstellen soll. Als Belastung erwies sich auch eine europäische Verordnung, mit deren Hilfe die Angelegenheiten von Kriegsflüchtlingen vom Asyl- zum Sozialressort überführt werden sollten. In der mehrmonatigen Übergangszeit blieb die Frage offen, wer den ersten Schritt bei der Anmeldung zur Krankenkasse machen muss: die Krankenkasse oder das Sozialamt. Auf das Pingpong angesprochen, kicherte der konfrontierte Sachbearbeiter am anderen Ende der Leitung hysterisch: „Ja, so ist das mit der deutschen Bürokratie.“
Es ist nachvollziehbar, dass Standardformulare nicht zügig auf eine neue Zielgruppe angepasst werden können, die nichts als das Leben und einen Kinderwagen auf ihre Flucht mitnehmen kann. Und es ist verständlich, dass neue Gesetzeslagen und Rechtsverordnungen ein Vakuum schaffen. Aber es bleibt festzuhalten: Es wimmelt von Dysfunktionalitäten im deutschen Amtsalltag, durch die sich alle Beteiligten mehr schlecht als recht durchwurschteln. Es ist absurd, dass sich drei Familienmitglieder um Anna und ihren Knirps herum monatelang jeweils ein bis zwei Tage die Woche mit der Beantragung und Erledigung von Elterngeld, Kindergeld, Sozialleistungen, Aufenthaltsstatus et cetera beschäftigen. Und es ist abstrus, dass Anna und der sehr kleine Martin nun stolze Träger von neun Nummern sind, die für verschiedene Gesetzeserlasse stehen und Voraussetzung für weitere Anträge sind: zwei Kundennummern beim Jobcenter, eine Bedarfsgemeinschafts-, eine Steuer-, Renten- bzw. eine Sozial- und Krankenversicherungsnummer, je eine Steuer-ID und zwei „Fiktionsbescheinigungs“-Nummern. Letzteres ist wieder so ein Wort, das von gesetzgebender Stelle erfunden wurde und das keiner versteht, der nicht ein Grundstudium der Juristerei absolviert hat.
So dankbar wie irritiert schaut Anna auf diesen Wirrwarr. Nicht nur, weil sie nichts versteht, sondern auch, weil Behördengänge selbst im Kriegszustand in ihrem Heimatland weitgehend digitalisiert sind: mit einem Kundenzugang und einer Kundennummer über eine App, über die sich Amtserfordernisse individualisiert erledigen lassen. Anna wusste gar nicht, was eine Briefpost ist und staunt ob der aus der Zeit gefallenen Papierflut. Dass übrigens alle eingehenden Papieranträge vom Jobcenter zu einer zentralen Stelle geschickt werden, um dort „digitalisiert“ zu werden, setzt Absurdistan das i-Tüpfelchen auf.
Die Lösung für das dysfunktionale Verwaltungssystem liegt ganz sicher nicht in der jüngsten Forderung des Beamtenbunds, dass der Staat wegen der allseits spürbaren Überlastungssymptome mehr Menschen beschäftigen müsse. Das wäre ein Herumdoktern an Symptomen, das die Dysfunktionalität nur verlängern würde. Die Lösung liegt überhaupt nicht in einem Ansatz, der vom Gesetzgeber und seinen Ressorts ausgeht, sondern in der Digitalisierung halbwegs intelligenter Prozesse, die vom Kunden her gedacht werden. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Digitalisierung weniger an der Technik als an der Unfähigkeit zu übergreifendem Denken und Handeln scheitert. Wer das verändern will, muss sich auf ein Transformationsvorhaben einlassen, das es in seiner Dimension mit dem der katholischen Kirche aufnehmen kann. Aber es hilft nichts. Da müssen wir ran.
Herzliche Grüße
Markus Baumanns