Kultur sticht Struktur – erst Unternehmenskultur verändern, dann Organisation umbauen?

Sind mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmtheit Ergebnis oder Voraussetzung gelingender Transformation? Der Vergleich von gesellschaftlichem Wandel mit Veränderungsvorhaben in Unternehmen regt zum Nachdenken an

Das Fazit meines letzten Newsletter 2024 lautete: „Die Sehnsucht der Mitarbeiter nach Klarheit ist größer als die Angst vor Veränderung.“ In den Weihnachtsferien las ich einen Artikel des Soziologen Steffen Mau, der sich mit der Frage beschäftigt, wie gesellschaftliche Veränderung stattfindet, warum sich Gesellschaften mit Wandel so schwer tun und wie er gelingen kann. Ich wurde neugierig. Können wir durch die Analyse von gesellschaftlichem Wandel andere Perspektiven für Veränderungsvorhaben in Unternehmen gewinnen?  

Dass die Frage von Mau in Deutschland hochaktuell ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Es reichen Stichworte wie: Umbruch der Wirtschaft: von der Autoindustrie bis zur Künstlichen Intelligenz, Energiekosten, Migration, veränderte Sicherheitslage, America First, Klimawandel – Trigger für gesellschaftliche Transformation gibt es in Hülle und Fülle.  

Gesellschaften tun sich grundsätzlich schwer mit Wandel, sagt Mau, weil alle Menschen nach Kontinuität und Sicherheit streben. Jede Veränderung, die nicht allmählich und über Generationen hinweg geschieht, stelle ein „Destabilisierungsereignis“ dar. Mit Veränderung konfrontierte Menschen interpretierten Veränderungsprozesse in persönlichen Gewinn- oder Verlustkategorien und positionierten sich entsprechend. Mau stellt fest, dass diejenigen Bürger, die über eine hohe Autonomie verfügen, oft bereiter sind, private Zugeständnisse zu machen, als diejenigen, die in straffen Hierarchiezusammenhängen eingebunden sind. Grundsätzlich gäbe es, so Mau, drei Positionen gegenüber Veränderungen: Pioniere, denen es zu langsam gehe. Verweigerer, die das Gefühl haben, abgehängt zu werden und die das Potenzial haben, sich politisch zu radikalisieren. Die größte Gruppe besteht aus Nachzüglern, die noch nicht genau wissen, wie sie sich zur Veränderung verhalten sollen.  

Regierungen als gewählte Exekutivorgane haben die Aufgabe, gesellschaftliche Transformationen anzustoßen und umzusetzen. Das Beispiel der Europäischen Einigung zeigt ein Vorgehen, bei der die Politik mit der Gründung der Europäischen Union instinktiv richtige  Fakten geschaffen hat, in die Bürger allmählich hineinwachsen und diesen bei allen Klagen mit „wohlwollender Gleichgültigkeit“ gegenüberstünden, so Mau. Die Transformation Ostdeutschlands nach dem Fall der Mauer stelle sich im Rückblick als Übernahmeakt dar. Folge dieser Politik qua Brechstange sind anhaltend laute Identitätskonflikte von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung, die in politischer Radikalisierung zu münden drohen. Bei der aktuellen ökologischen Transformation hat das unglückliche Agieren der letzten Bundesregierung im Heizungsgesetz oder der Ruf nach Tempolimit bei vielen Bürgern das Gefühl einer erzwungenen Verhaltensänderung und Gegenwehr erzeugt.  

Wunsch nach Kontinuität und Stabilität, zunächst Skepsis, die Positionen gegenüber Veränderung in einer individuellen Gewinn- und Verlustrechnung messen – all das kommt uns vertraut vor. Auch wenn Unternehmen keine Demokratien und CEOs keine von Mitarbeitern mandatierten Entscheidungsträger sind, die alle möglichen gesellschaftlichen Strömungen berücksichtigen müssen, gibt es ähnlich gelagerte Erfolgsfaktoren gelingender Transformation:  

  • Es braucht das richtige Momentum für eine Veränderung. Das kann eine Krise oder die Dysfunktionalität des Bestehenden sein, wie sichtbar überforderte Verwaltungsbürokratie oder eine gewachsene Unternehmensstruktur, die so komplex geworden ist, dass sie Entscheidungen und Handlungen behindert.  
  • Es besteht das berechtigte Bedürfnis nach Klarheit darüber, welche Verbesserung die Veränderung mit sich bringt. Der opferreiche Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in Argentinien scheint (noch) von einer Bevölkerungsmehrheit getragen zu sein. Im Fall eines Unternehmens sorgt eine gut kommunizierte Strategie für Rückhalt.  
  • Um Ablehnung gegenüber Umsetzung von Veränderung zu minimieren, sollten sich Mitarbeiter in Unternehmen oder Bürger auf kommunaler- oder Landesebene als aktive Gestalter des Wandels einbezogen fühlen können.  
  • Transformationsvorhaben sind Lernprozesse, die Überprüfungen systematisch einbauen müssen, um Anpassungen und Kurskorrekturen zu ermöglichen. 

Zwei Stellen des Vergleichs gesellschaftlicher mit organisatorischer Transformation lassen aufhorchen: 

  • Erstens: In den seltensten Fällen geht Institutionenwandel Bewusstseinswandel voraus, wie im Fall der EU. Zu weit vorgreifende politische Entscheidungen können hartnäckiges und eigensinniges Beibehalten der bestehenden Kultur zur Folge haben, wie in Teilen Ostdeutschlands. Das erinnert mich an die Aussage eine geschäftsführende Gesellschafterin, die wir kürzlich sprachen. Im Rückblick auf den Transformationsprozess in ihrem Unternehmen fragt sie sich, ob sie nicht schneller und wirkungsvoller zum Ziel gekommen wäre, wenn sie zunächst eine Veränderung der Unternehmenskultur angestoßen hätte, bevor sie die Neuordnung der Organisation in Angriff nahm.  
  • Zweitens: Sind solche Mitarbeiter und Führungskräfte, die Handlungsfreiraum und hohe Autonomie haben, eher bereit zu laufender Veränderung als solche, die in starren Strukturen stecken? Kann die Ermöglichung von Eigenverantwortung von Mitarbeitern und Führungskräften eine Voraussetzung für das Gelingen von Veränderungsprozessen sein?  
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