Hallo aus Hamburg,
wie jedes Jahr verbrachte ich in diesem August eine Lernwoche an der Stanford Universität und im Silicon Valley. In einer Gruppe von Unternehmern und CEOs aus Asien, Nordamerika und Europa diskutierten wir dort unter Anleitung ausgewählter Professoren die neuesten Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz und deren Folgen. Diese Woche ist jedes Mal bereichernd, dieses Mal war sie atemberaubend. Denn neben großartigen Wissenschaftlern gesellten sich Pioniere der künstlichen Intelligenz im Silicon Valley wie der Ex-Mitgründer von Deepmind und heutige CEO von Microsoft AI Mustafa Suleiman oder der Ex-CEO von Google Eric Schmidt zu uns, und die hatten eine besondere Botschaft: „Dies ist nur der Anfang.“ Und: „Wir haben keine Ahnung, wo das hinführt.“
Aber der Reihe nach.
Im Vorfeld der Lernreise frischten wir Programmierkenntnisse auf. Dann machten wir intensive Bekanntschaft mit den Entscheidungsmodellen und Lernlogiken, die sich im Innenleben des maschinellen Lernens abspielen. Die exponentielle Zunahme von Entscheidungsparametern steigert die Geschwindigkeit, erhöht die Treffsicherheit und reduziert die Halluzinationen der Maschine. Wir erfuhren, was die großen Technologieunternehmen alles dafür tun, um Sprachmodelle in die Infrastruktur bestehender Geschäftsmodelle zu integrieren und unterschiedliche Daten wie Texte, Bilder, Videos in einem Modell zusammenzuführen. Jonathan Ross, Gründer von Groq, ein milliardenschwerer Anbieter von automatisierter Programmierung, fasste die Entwicklung so zusammen: Wir seien noch in der sogenannten Ideation-Phase, in der Sprachmodelle relativ viele Fehler (Halluzinationen) machten und instinktiv handelten. In der nun beginnenden Phase versuchten sie Sprachmodelle analytischer zu bauen. Bald werde die KI unsere Absichten besser verstehen. Wir würden beginnen, KI zu vertrauen, zum Beispiel in Planungsprozessen. Nach und nach würden wir unseren Alltag KI überantworten, vom autonomen Fahren bis zur Produktion von Texten. An der Überwindung der Hürden für diese für Ross großartige Entwicklung arbeiteten alle Beteiligten fieberhaft: Deckung des immensen Energiebedarfs bei gleichzeitiger Reduzierung des CO2-Ausstoß durch die Wiederinbetriebnahme und den Neubau von Atomkraftwerken, Steigerung der Rechnerkapazitäten durch leistungsfähigere Grafikprozessoren, eines Tages vielleicht durch Quantencomputing, Erhöhung der Datenqualität durch Zugriff auf nicht veröffentlichte wissenschaftliche Erkenntnisse von Universitäten.
Wir befassten uns auch mit Anwendungen. Die Fahrt in einem autonom fahrenden Waymo-Taxi in San Francisco, die sich wie eine Befreiung anfühlt. Das Autolabor, das die Stanford University gemeinsam mit Toyota und Volkswagen betreibt, und in dem zwei autonom fahrende Rennwagen ein waghalsiges Ballett mit minimalem Abstand zueinander aufführen. Das Start-up, das die Sequenzierung von Proteinen mit Laserlicht vornimmt und damit die Entwicklung von Medikamenten gegen Krebserkrankungen erheblich beschleunigt. Die Tänzerin und Computerwissenschaftlerin Catie Cuan an der Stanford University, die Roboter mit Musik und Rhythmus trainiert, um herauszufinden, wann diese eigene Choreographien entwickeln, also Kreativität erzeugen. Wir erhielten praktische Anregungen. So wurde uns vorgeschlagen, die Unterlagen für eine Aufsichtsratssitzung vor dem Versenden in Copilot oder ChatGPT zu stecken – nicht ohne vorher in den Einstellungen die Möglichkeit auszustellen, dass die Maschine mit diesen Daten trainiert. Und sie dann beauftragen: „Versetze dich in die Person eines nachbohrenden Mitglieds des Aufsichtsrats. Welche Fragen wird sie stellen?“ Oder: Nutzt Große Sprachmodelle nicht als bessere Google-Suchmaschine, sondern als Denkpartner: „Wie würdest du diese Entscheidung bewerten?“ Nachhaken: „Warum hast du diese Antwort gegeben?“ „Worin könnte eine Schwäche deines Vorschlags liegen?“
Die Meinungen darüber, wie klug, kreativ und emotional die KI wird, gehen weit auseinander. Skeptiker sehen prinzipielle Begrenzungen der KI abseits gelernter Zustände. So könnten autonome Fahrzeuge niemals den gesamten Straßenverkehr vollautonom abwickeln, weil die Komplexität und Verkettung unerwarteter Ereignisse zu hoch sei. Unbestritten aber ist, dass es einen grundlegenden Unterschied zu den Technik-Revolutionen der Vergangenheit gibt. Gab es bei der Dampfmaschine oder beim Internet immer noch Ingenieure, die die Technik kontrollieren konnten, ist es nun anders. KI ist keine neue Technologie, sondern ein Generator von neuen unbekannten Technologien und Systemen, die bald jeder an seinem Laptop schaffen beziehungsweise lostreten kann. Das stellt die Regulierung vor große Herausforderungen, wie uns ein vorausschauender Rechtswissenschaftler lehrte: „It’s too open, too fast and too unclear.“ Eric Schmidt setzt darauf, dass sich die Mächte der Erde nach dem Vorbild der Atombombe auf ein Begrenzungsmoratorium verständigen. Und er gibt einen Tipp: „Wenn KI anfängt, deine Entscheidung zu beeinflussen, zieh den Stecker raus.“
Zehn Tage nach diesem einwöchigen Parforceritt sprach ich in Berlin mit Wagniskapitalgebern. Bei ihnen reift der Gedanke, dass Software, die eine Maschine auf menschliche Anweisung hin bedarfsgerecht und individualisiert bauen kann, zur commodity wird. Sie würden heute nicht mehr in Personio oder Salesforce investieren. Die Zukunft der Wertschöpfung läge wieder in Hardware, zu besichtigen bei der Technologie zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels. Climeworks, das mit seinen Maschinen CO2 aus der Luft fängt und karbonisiert unter der Erde lagert, ist ein Beispiel.
Keine schlechte Aussicht für den traditionell ingenieursbestimmten Standort Deutschland. Wenn wir umdächten und uns umorganisierten, könnten wir auf diese Perspektive konsequent mit der Tatsache reagieren, dass bereits heute 40 bis 70 Prozent jeder Arbeitsstunde automatisiert werden können, statt ständig über Fachkräftemangel zu jammern. Das könnte eine große Chance für unseren Standort sein.
Beim Versuch eines Fazits hilft mir der britische Dramatiker Tom Stoppard, der in seinem Theaterstück „Arcadia“ über das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft, Ordnung und Unordnung, Sicherheit und Unsicherheit schrieb: „The future is disorder (…) It’s the best possible time to be alive, when almost everything you thought you knew is wrong.“