Krisen sind besser als Ihr Ruf – was Cocktails und Einhandstaubsauger gemeinsam haben 

Krisen als Chance: Wie wirtschaftlicher Einbruch Innovation, Mut und Wandel beflügeln kann – von der Erfindung des Staubsaugers bis zur Transformation von Unternehmen. Eine Perspektive, die den Blick auf die bereinigende Kraft von Rezessionen und ihre Rolle für zukünftiges Wachstum schärft.

Hallo aus Hamburg,

In der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre musste Wladimir Smirnow, der Gründer der gleichnamigen Moskauer Wodkadestillerie, die mittlerweile nach Istanbul und Paris weitergezogen war, sein Unternehmen in die USA verkaufen. Unter den Bedingungen der Rezession war es Smirnow nicht gelungen, Wodka außerhalb Russlands zu einem Kassenschlager zu machen. Rudolph Kunett, der Käufer, integrierte die Fabrikation in sein Spirituosenunternehmen G.F. Heublein Brothers Inc. Er überlegte, wie man den in den USA unbekannten Wodka zur Bekanntheit verhelfen könnte. Einer seiner Manager traf 1941 auf Jack Morgan, den Wirt des Cock’n Bull Pub in Hollywood, der seine selbstgemachte Ingwerlimonade vermarkten wollte. Der Sage nach sollen die beiden den Moscow Mule im unverwechselbaren Kupferbecher kreiert haben. Im Schlepptau mit dem Cocktail gelang die Markteinführung des Wodka in den USA. 

Anfang des 20. Jahrhunderts produzierte das 1883 in Wuppertal-Barmen gegründete Teppichwerkunternehmen Vorwerk auch elektrische Motoren für Grammophone. Als der Hörfunk in den 1920er Jahren aufkam und zur gleichen Zeit deutsche Haushalte an das Stromnetz angeschlossen wurden, brach das Geschäft von Grammophonen und deren autarken Antrieben ein. Vorwerk sah sich verwaisten Werkshallen in einer sich verschärfenden Rezession gegenüber. Der findige Chefingenieur Engelbert Gorissen monierte aus der Not heraus einen Elektromotor und einen Beutel an ein Rohr, ergänzte diese um eine Saugvorrichtung am Fußende und erfand den Einhandstaubsauger. Das 1930 patentierte Produkt, der Kobold, erwies sich allerdings für die deutsche Hausfrau als sehr erklärungsbedürftig. Vorwerk heuerte kurzerhand wegen der Wirtschaftskrise zusätzlich in prekärer Situation steckende Kriegsversehrte aus dem Ersten Weltkrieg als provisionierte Handelsvertreter zur Erläuterung des Kobold in den Haushalten an. Das war die Geburtsstunde des Direktvertriebs in Deutschland und des Durchbruchs des Kobolds bis heute. 

Rapide steigende Energiepreise, hohe Inflation, Absatzprobleme wegen des Ukrainekrieges und Lieferkettenengpässe wegen der strikten Coronapolitik in China sorgen im Jahr 2022 dafür, dass ein norddeutscher Speziallandmaschinenhersteller in eine strukturell defizitäre Situation gerät. Die notwendige Überprüfung der Strukturkosten setzt die Geschäftsführung so auf, dass sie nicht nach einem Gießkannenprinzip „über alle Bereiche“ hinweg endet, sondern die Geschäftsbereiche und die Arbeitsweisen insgesamt einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Und siehe da: Nach jahrelangen Diskussionen um ein liebgewonnenes aber selbst in Hochzeiten defizitäres Produktgeschäft findet das Unternehmen endlich den Mut und die Konsequenz, sich von diesem zu trennen. Die Produktinnovation, die seit langem künstlich unterteilt in „Ventures“, „New business“ und „neue Geschäftsbereiche“ an verschiedenen Standorten agiert, dadurch Verlangsamung, Doppelarbeit und Dauerdiskussionen um Schnittstellen erzeugt, wird zu einem Team zusammengebunden, das fortan standortübergreifend auf einer gemeinsamen Plattform zusammenarbeitet.  

Findige Menschen, unternehmerischer Mut, Konsequenz in der Führung in Zeiten von Unternehmens- und Wirtschaftskrisen verbinden diese drei Geschichten. Sie zeigen die kreative Kraft, die Krisen beflügeln können. Diese Perspektive auf die gegenwärtige wirtschaftliche Großwetterlage gerät meines Erachtens angesichts der derzeitigen Ängste vor Krise und Rezession aus dem Blick.  

Die NZZ hat am Beispiel von sieben Rezessionen, die die Schweiz seit 1948 erlebt hat, vorgerechnet, dass sich ungeachtet dieser das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1948 bis 2021 rund versechsfacht hat. Es handelt sich um bekannte Einbrüche: die Rezessionen der Jahre 1958, 1982, 1991-93, 2002/03, Ölkrise 1975/76, Finanzkrise 2008/09 und die Corona Krise 2020. Auf der Verliererseite der Wirtschaftseinbrüche stehen Arbeitslosigkeit, im Regelfall kurzfristig; im schlimmeren Fall langfristig als Folge eines Strukturwandels, der das Aussterben bestimmter Berufe zur Folge hat. Schwer haben es vorübergehend Ausbildungs- und Hochschulabsolventen, die zu einem kritischen Zeitpunkt auf den Arbeitsmarkt drängen.  

Positive gesamtwirtschaftliche und wohlstandssteigernde Wirkung haben diese Krisen jedoch in ihrer Wirkung auf einen beschleunigenden Strukturwandel und die Korrektur wirtschaftlicher Übertreibungen der Vergangenheit. Die bereinigende Kraft der Lehman Pleite 2008 auf den US-amerikanischen Immobiliensektor (auch wenn wir heute wieder nicht weg davon stehen) und die derzeitigen Massenentlassungen bei den großen Techunternehmen Google, Facebook und Co sind Beispiele für die Korrektur exponentieller Wachstumserwartungen und übersteigerter Unternehmensbewertungen. Solche Bereinigungseffekte bringen Volkswirtschaften letztlich auf einen Pfad höheren Wachstums und Arbeitsplätzen Zukunft.  

Anstatt also dem Untergang des Abendlands zu huldigen, die Gesellschaft am Rande der Nervenzusammenbruchs zu wähnen oder das Ende der freien Marktwirtschaft über die angeblich offenkundig werdende „Irrationalität des Ganzen“ einzuläuten (wie es kürzlich der Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt tat), wäre es gut, wir würden uns auf die Kraft konzentrieren, die in Krisen liegen. Und einem Denkfehler nicht zu verfallen: Zu glauben, die Krise sei die Ausnahme und Stabilität der Normalfall. Das Gegenteil ist der Fall wie die Geschichte zeigt und die Zukunft erweisen wird. Rainer Hank hat kürzlich in der FAS daran erinnert, dass die Wirtschaft einer Zyklik von Schwankungen unterliegt, einem stetigen Auf- und Abschwung, Globalisierung und Deglobalisierung, Boom und Dämpfer. 

Sicher, unsere derzeitige Krise hat durch zwei Elemente das Zeug, alles aus dem Lot zu bringen: Ein Auslösen einiger der über 13.000 existierenden Atomwaffen sowie die Klimaverschiebung reicht mehr als aus, um die Spezies Mensch auf diesem Planeten auszurotten. Bis dahin bleibt für jeden einzelnen, dagegen zu halten, das „dennoch“ und „nun erst recht“ das Richtige tun. 

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