Hallo aus Hamburg,
In vielen Unternehmen rumort es. Ein Grund dafür ist, dass die bestehenden organisatorischen Strukturen nicht mehr zu den Aufgaben passen und renovierungsbedürftig sind. In den vergangenen Jahren sind in vielen Unternehmen zusätzliche Abteilungen und Hierarchieebenen entstanden, in immer stärker verästelten Strukturen mit immer höherem Abstimmungsbedarf. Unübersichtliche Abläufe, Rollen und Verantwortlichkeiten erzeugen lähmende Dauerdiskussionen über Zuständigkeiten. Folge der gewachsenen Dysfunktionalität sind mühsame Entscheidungsprozesse, verstärktes Silo- und Bereichsdenken, Doppelungen von Tätigkeiten, viel zu viele ineffektive Meetings. Ein Zustand, bei dem sich die Organisation vor allem mit sich selbst beschäftigt. Der Kunde stört.
Der Management-Vordenker Gary Hamel, der den derzeitigen organisatorischen Umbau des Chemie- und Pharmariesen Bayer begleitet, hat diesen Zustand in einem im Oktober erschienenen »Handelsblatt«-Interview „Bürosklerose“ genannt. Wenn Unternehmen wachsen, kommen immer mehr Managementebenen hinzu. Dahinter steckt ein Organisationsmodell aus der Frühzeit der Industrialisierung: Dem Wunsch, alle Aufgaben eines Unternehmens effizient erledigen zu wollen, begegnen Manager mit lückenloser Kontrolle. Dieses Organisationsverständnis erweist sich als ungeeignet in Zeiten von hoher Unsicherheit, sich schnell verändernden Märkten, gänzlich verändertem Kommunikationsverhalten und intelligenter Technik, die immer mehr Arbeit übernehmen kann. Sinnbild des Kontrollgedankens von Arbeit in der alten Ordnung ist das Organigramm mit seinen pyramidal angeordneten Kästchen, dem Chef an der Spitze und der Abwesenheit von cross-funktional arbeitenden Projektteams und Kunden.
Es knirscht in Unternehmen so gewaltig, weil wir versuchen, neuen Herausforderungen mit alten Denkweisen zu begegnen: „In welche Abteilung (wir teilen ab, statt zusammenzuarbeiten!) gehört denn jetzt Sabine?“, „Wer kontrolliert die Regionen?“, „Wo hängen wir Michael auf (der arme Kerl)?“ Eine den Bedürfnissen unserer Zeit angepasste Organisation muss sich hingegen fragen: Wie balancieren wir Aufgaben und Abläufe so, dass es weder an der erforderlichen Dynamik noch an Flexibilität und Freiräumen fehlt? Wie gestalten wir unsere Organisation kundenfokussiert und anpassungsfähig? Wie geben wir Handlungsfreiraum und stellen gleichzeitig sicher, dass wir in eine Richtung laufen?
Neubesinnung ist nicht nur bei Bayer zu beobachten. Seit gut zehn Jahren werden allerorten neue Organisationsmodelle ausprobiert. Darunter hierarchiefreie wie reine Netzwerkorganisationen oder Holakratien. Oder solche, die Verantwortungshierarchie und Eigenverantwortung in eine Balance bringen wie das Dynamogramm, oder das Aufbrechen von Organisation in einzelne Unternehmen wie beim chinesischen Haushaltsgerätehersteller Haier. Eine der spannendsten Darstellungen begegnete uns neulich in der hessischen Provinz: Ein Holzbauunternehmen hat seine Aufgaben und Teams in einem Kreislauf angeordnet. So, wie der Kunde das Unternehmen erlebt: Vertrieb, Planung, Fertigung, Montage und Übergabe an den Kunden. Unterstützende Funktionen wie Finanzen und Controlling, Innovation, Strategie und Personalbetreuung stehen in der Mitte. Die Unternehmensleitung taucht nicht auf.
Das Ringen um die Zukunft der Organisation erhält zusätzlich Nahrung durch die Tatsache, dass einer aktuellen Studie von McKinsey zufolge 2030 mindestens 30 Prozent jeder Arbeitsstunde intelligent automatisiert werden können. Bald werden viele Prozesse und Abläufe durch generative künstliche Intelligenz ersetzt werden. Amazon, mit seinen vollautomatisierten Entscheidungsprozessen bei der Aufnahme sowie der Preis- und Erlösgestaltung, lebt diesen Zustand schon länger vor, der auch die Trennung von Zulieferern auf seiner Plattform zur Folge hat. Dem Stanford Institute for Human-Centered Artificial Intelligence folgend könnte das Zusammenspiel von Mensch und Maschine in einer Organisation in Zukunft bald so aussehen: Künstliche Intelligenz legt Entscheidungsspielräume offen, modelliert Entscheidungen und misst deren Umsetzung. Sie bewertet, experimentiert, optimiert auf Grundlage von Analysen und schlägt Ziele und deren Messbarkeit vor. Sie stellt Teams aus Netzwerken inner- und außerhalb der Organisation zusammen, empfiehlt Rollen und Struktur zur Aufgabenlösung. Der menschliche Teil der Organisation entscheidet über die Strategie, überprüft diese laufend, passt sie an („strategisiert“), definiert Erfolg, trifft Abwägungen, löst Zielkonflikte und kuratiert die künstliche Intelligenz.
Selbst ohne künstliche Intelligenz stellen die Umbrüche zweifellos eine Zumutung für alle Beteiligten dar. Eine leitende Mitarbeiterin von Bayer, die eine Querschnittsaufgabe wahrnimmt, kommentiert den Veränderungsprozess aus ihrer Sicht: „Ich weiß nicht mehr, an wen ich mich wenden soll, wenn ich eine fachliche Frage habe. Vor lauter selbstbestimmten Teams blicke ich nicht mehr durch. Wer macht was? An wen soll ich mich wenden, wenn ich eine Fachfrage habe?“ Es bleibt offen, ob diese Beobachtung die natürlichen Schmerzen eines vorübergehenden Zustands spiegelt oder ob das Vorhaben scheitert.
Die gute Nachricht: Die Sehnsucht der Menschen nach Klarheit scheint größer zu sein als die Angst vor Veränderung. „Endlich!“, lautet die Reaktion auf klare Worte angesichts des untrüglichen Gefühls, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Umsichtig genutzt könnte diese Sehnsucht das Fundament für ein Gelingen der anstehenden Veränderungen sein.