Hallo aus Hamburg,
wir erleben ein paar Krisen auf einmal, die Anlass dafür geben, Planungen in die Mottenkiste einer vergangenen Zeit zu schieben. Krieg in Europa, der neben den unfassbaren menschlichen Opfern die ohnedies im Umbruch befindliche Weltwirtschaft ins Wanken bringt. Der spürbare Klimawandel, der neben extremen Wetterphänomenen Dürren und Hungersnöte erzeugt. Flüchtlingsströme von Süden nach Norden, die zum Dauerzustand zu werden drohen. Szenarien von zugedrehten Gashähnen und Folgen eines Cyberkriegs, die Marc Elsbergs Black Out alle Ehre machen. Polarisierung zwischen USA und China, zwischen libertärer und autokratischer Welt – sowie innerhalb demokratischer Gesellschaftsordnungen. Inflations- und Preissteigerungen, die auf den Alltag übergreifen und den sozialen Zusammenhalt auf die Probe stellen. Eine Pandemie, die dagegen fast harmlos wirkt, obwohl sie die Welt zwischenzeitlich zum Stillstand brachte. Sogar ein Atomkrieg in Europa scheint nicht mehr undenkbar. Sie sind zum Greifen nah, die in Science-Fiction-Filmen opulent ausgemalten apokalyptischen Szenarien, und sie bündeln sich in einem krisenhaften Moment unserer Gegenwart. Alle diese Phänomene tauchten vereinzelt in Expertendossiers, aber nicht in Unternehmensplanungen auf.
Gegen die neue Realität wirken Planungen wie sinnentleerte Übungen aus einer alten Zeit. So zum Beispiel die alljährlichen Rituale zur Erstellung des Budgets für das Folgejahr, die regelmäßig Teile des Unternehmens lahmlegen. Ein riesiger Aufwand für die spätere Erkenntnis, dass Markt und Kunden sich dann doch anders entwickeln als die Annahmen. Ergo wird die Planung immer wieder angepasst – eine Beschäftigungstherapie zur Produktion von Scheingenauigkeiten. Selbst alltägliche Planungen, wie die einer Reise zu Tante Ernas rundem Geburtstag oder zum Wochenende mit Freunden, standen zwischenzeitlich unter einem von allen achselzuckend akzeptierten Vorbehalt: „Falls es die Coronazahlen zulassen…“.
Nun könnte dieses Außerkrafttreten von Planung Angstzustände auslösen, tatsächlich hat es auch befreiende Wirkung. Denn nun geht es um die wirklich wichtigen Fragen, denen wir uns im wohlstands- und sicherheitsverwöhnten Deutschland zu stellen haben.
Es geht nicht mehr darum, wie die Familienplanung am besten zu gestalten sei, um während der geschickt aneinander gereihten Elternzeiten eine Weltreise unternehmen zu können „solange die Kinder noch klein sind.“ (So vor zwei Jahren bei einem Gespräch an einem Nachbartisch aufgeschnappt). Sondern es geht um die Frage, ob wir etwas tun möchten, um das Leid von Kriegsflüchtlingen zu lindern. Es geht um schwierige Abwägungen: Können wir im Baltikum noch weiter investieren oder ist das Baltikum das nächste Ziel Russlands? Treiben wir den Unternehmenskauf in China voran oder beenden wir ihn angesichts zunehmender Repressionen und Auflagen der Lokalbehörden in China? Wie stellen wir Lieferketten zuverlässig auf? Wie überlebt unser Unternehmen dramatisch steigende Energiekosten? Wie erhalte ich den Zusammenhalt eines Teams in Zeiten von Arbeiten auf Distanz?
Die neue Kurzfristigkeit kann befreiend wirken. Einen Kalender zu haben, der auf Wochen und Monate bis auf jede einzelne Stunde vollgepackt ist, kommt mir durch die Erfahrung des Corona-Stillstands absurd und einengend vor. Eine Budgetplanung als groben Anhaltspunkt und in dem Bewusstsein zu sehen, dass sie eh dauernd angepasst werden muss, befreit ein Unternehmen von Paralyse durch ausufernde Analyse.
Ich erinnere mich an eine prägende Zeit als junger Diplomat in dem damals krisengeschüttelten Land Kolumbien. Wenn ich morgens in die Botschaft kam, war völlig unklar, was im Laufe des Tages passiert: ein Anschlag der Drogenmafia im Zentrum von Bogotá? Eine Bombendrohung gegen die Botschaft? Ein neuer Entführungsfall einer deutschen Staatsangehörigen? Heute wieder schreckliche Menschenrechtsverletzungen bei einer Konfrontation zwischen Guerilla und den Paramilitärs in der Küstenregion Urabá? Jeder Tag hatte eine Agenda. Die aber wurde im Laufe des Tages immer wieder neu geschrieben. Die Zeit in Kolumbien verlangte mir persönlich eine Anpassungsfähigkeit ab, die mir als kölsche Jung nicht schwerfiel, und die mir zur zweiten Haut wurde.
„Das dritte Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ist bisher so mittel“ so zwitscherte neulich jemand in den sozialen Medien. Da ist was dran. Aber es braucht die Brüche von außen, damit wir wieder spüren, dass Unsicherheit das einzige ist, was sicher ist. Und dass darin eine Befreiung liegen kann.
Herzliche Grüße
Markus Baumanns