Hallo aus Hamburg,
Anfang Februar habe ich eine Woche lang die Schulbank an der Harvard Business School (HBS) gedrückt. 180 Unternehmer und Managerinnen aus aller Welt lassen sich dort nach intensiver Vorbereitung von ausgewählten Professoren der HBS in die Mangel nehmen. Unvergesslich der Spruch von Frances Frei, Professorin für Leadership, nachdem sie geduldig der langatmigen Antwort eines Alphatier-Teilnehmers zugehört hatte: „Das war eine brillante Antwort! Auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt habe.“
In diesem Jahr ging es schwerpunktmäßig um Geschäftsmodelle rund um generative künstliche Intelligenz (GKI). Einhundert Millionen Nutzer zwei Monate nach Einführung – das ist Rekord. Noch nie hat eine technologische Neuerung so schnell eine Marktdurchdringung erreicht wie ChatGPT nach der Öffnung durch OpenAI im November 2022. Für mich war aufschlussreich der Vergleich des aktuellen Hypes mit dem Goldrausch in Amerikas Westen Mitte des 19. Jahrhunderts, den ein Professor angestellt hat: Es waren die Hersteller von Schaufeln, die den Mythos vom Gold schufen, um ihre Gerätschaften zu verkaufen. Worin liegt die Analogie zum Geschäftsmodell von GKI?
In beiden Fällen liegt die größte Wertschöpfung nicht im Produkt selbst, und das aus zwei Gründen: Allein die direkten operativen Kosten und die Energiekosten von GKI, die bei Chat GPT Schätzungen zufolge zwischen 150.000 und 700.000 US-Dollar pro Tag liegen, stehen neben den sonstigen Kosten des Unternehmens in keinem Verhältnis zu Einnahmen, die sich aus Zugangsgebühren erzielen lassen. Und: Der Wettbewerb der Large Language Models (LLM) ist längst unter den großen Technologieunternehmen in vollem Gange. Microsoft mit seinen derzeit 49 Prozent Anteilen an ChatGPT und Prometheus, Google mit Claude von Anthropic und Gemini oder Blenderbot von Meta – noch ist völlig offen, wer das Rennen macht. In der Verarbeitung von Gold respektive in der Kreation von Anwendungsmodellen (Application Programming Interfaces, APIs) zum Beispiel für Entwickler, die Chatbots für Endkunden bauen, sehen die Chancen schon besser aus. Die besten Karten bei der Ausbeutung des neuen Goldes haben Chiphersteller wie Nvidia. Oder AWS von Amazon, die die Cloud-Infrastruktur anbieten, auf die alle angewiesen sind. Oder diejenigen, die GKI in ihr Serviceangebot einbetten, wie Microsoft mit dem intelligenten Co-Piloten in seiner marktbeherrschenden Arbeitsumgebung MS 365.
GKI ermöglicht zwei wesentliche Werttreiber für bestehende Unternehmen. Sie kann die Kosten operativer Prozesse drastisch reduzieren helfen und zusätzliche Wertschöpfung für unsere Kunden schaffen. Zum Beispiel durch Chatbots, die die Qualität vorausschauender Wartung steigern. Oder Marktanalysen durch direkt laufenden Kundendialog eine neue Aussagekraft geben. Sicher ist, dass GKI Markteintrittshürden für neue Wettbewerber senken wird, die in unser angestammtes Geschäftsmodell eindringen. Das zwingt vermehrt zu kontraintuitiven Entscheidungen, bei denen wir unser Geschäftsmodell selbst zerstören und Risiken eingehen, ohne diese existenziell werden zu lassen. Wir müssen jetzt die Zukunft unseres Geschäftsmodells neu denken und eine strategische Transformation einleiten. Um Profitabilität langfristig sicherzustellen, müssen wir mehr Wert aus GKI schaffen als unsere Wettbewerber – die wir gegebenenfalls noch gar nicht kennen.
Vieles unklar, alles offen. Unternehmen fragen sich zurzeit:
- Welche Daten haben wir?
- Welche davon können wir wie nutzen?
- Wie stellen wir die Organisation so auf, dass sie mit Unsicherheiten umzugehen in der Lage ist, Chancen schnell ergreift, ausprobiert und validiert, vorangeht und wieder zurückrudert?
In der Woche an der HBS drehte sich alles um den Umgang mit Unsicherheit. Wenn zum Beispiel alle Informationen zu einem bevorstehenden Unternehmenskauf vorliegen und sich im Aufsichtsrat zwei Lager bilden: für und gegen die Übernahme. Eine der Strategien gegen Unsicherheit und für besser durchdachte Entscheidungen sind neue Formen der Beteiligung von Mitarbeitern am Unternehmen, um die Transparenz zu erhöhen, deren Wissen einzubeziehen und Entscheidungen nachvollziehbar zu machen. Hilfreich kann es auch sein, sich nicht nur messbare, sondern ambitionierte Ziele zu setzen, die zwar unerreichbar sind, aber eine Richtung vorgeben, wobei der Weg immer wieder geändert werden kann. Führungskräfte werden mehr denn je gefordert sein, gegen den Strich zu denken, Bindungen zu Mitarbeitern mehr Bedeutung zu geben, gleichzeitig mit sich und den Mitarbeitern noch klarer und konsequenter zu sein und – um ein Bild zu zitieren – wie ein chinesischer Koch zu handeln, der süß und sauer kochen können muss. Mut und Neugier vorleben, statt auf Erfahrung zu setzen. Denn wie es eine Verhaltensforscherin im Kurs auf den Punkt brachte: Wir neigen dazu, Erfahrung als Evidenz für Aussagen zur Zukunft zu missbrauchen.
Ich verließ die Schulbank in Boston mit der Zuversicht, dass unsere Zeit ein seltenes, ganz besonderes Momentum für die Gestaltung von Neuem mit sich bringt.