Hallo aus Hamburg,
im Newsletter „Unsicherheit umarmen“ beschäftige ich mich in der Regel nicht mit der großen Politik, sondern mit dem, was wir in unseren Unternehmen selbst jeden Tag verändern können. Das zur Neige gehende politisch turbulente Jahr in Deutschland regt an, einen Blick auf die gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen zu werfen, innerhalb derer wir wirtschaften, organisieren und leben. Denn die stehen unter Druck.
Es war ein heißer politischer Sommer und Herbst: Die Haushalte der Bundesregierungen 2025 und 2026, die Modernisierungsagenda von Bund und Ländern, das Rentenpaket, Reform des Gebäudeenergiegesetzes, die Wehrpflicht, Energiekosten, Stromsteuer und so weiter und so fort. Mit Ach und Krach standen am Ende Gesetzesbeschlüsse. Auf dem Weg dahin monatelange erhitzte Debatten über soziale und unsoziale Medien, beim Dauergequassel der TV Talk Shows und gelegentlich im Bundestag – wo Debatten eigentlich hingehören. Die Akteure bezichtigten sich gegenseitig des „kompletten Irrsinns“, „fauler Kompromisse“ und „nackter Wortbrüche“.
Erhitzte öffentliche Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition, Parteien, Lobbygruppen und der Öffentlichkeit deuten auf eine engagierte Demokratie hin. Zwei Beobachtungen machen allerdings nachdenklich. Zum einen gibt es unzählige Fälle von üblen persönlichen Verleumdungen unterhalb der Gürtellinie, denen die Niedrigschwelligkeit und Spontaneität der sozialen Medien Raum gibt. Zum anderen schwingt in den Diskussionen erbitterte Kompromisslosigkeit und ein ins Grundsätzliche gehendes Fragezeichen gegenüber der Regierung und dem gesamten „System“ mit. Eine Regierung, die seit acht Monaten am Start ist. Die eine Vorgängerregierung hatte, die an hausgemachten und ähnlichen externen Fliehkräften vorzeitig zusammenbrach. Während eine Alternative zunehmend an Zuspruch gewinnt, die an den Grundfesten der demokratischen Grundordnung rüttelt. Wir hören einen schiefen Chor singen, der seinen eigenen Untergang herbeibeschwört.
Lasst uns einen Moment innehalten. Wir leben in einer nicht perfekten Staatsform, die in Teilen sicher erneuerungsbedürftig ist. Grosso modo hat sie gegenüber Diktaturen allerdings den Vorteil einer weitgehenden freien individuellen Entfaltung und Meinungsäußerung. Letzteres bezweifeln einige wegen eines gefühlten Diktats moralisierender Wohlgesinnter. Dazu gäbe es einiges zu sagen, aber das führt hier zu weit. Der Preis für die weitgehende Freiheit ist, dass Aushandelsprozesse kompliziert sind und es keine hundertprozentige Wunscherfüllung für jeden einzelnen zu jedem Zeitpunkt geben kann. Teilweise wird es so kompliziert, dass der Ruf nach einem, der auf den Tisch haut und durchregiert, immer lauter wird. Gehen wir demgegenüber davon aus, dass die Mehrheit Freiheit als eine gute Sache ansehen.
Wir kennen das vom Sofakauf. Sie will ein gelbes, er ein blaues. Was tun die beiden? Jeder überlegt sich, ob er zurücksteckt: „Ist mir die Farbwahl so wichtig, dass ich es auf einen handfesten Streit oder gar Bruch ankommen lasse? Oder setze ich besser darauf, dass ich bei der nächsten anstehenden Entscheidung die erste Wahl habe?“ Ein möglicher Kompromiss wäre auch ein grünes Sofa.
Der Kompromiss als Preis der Freiheit ist in der aufgeheizten Situation der Republik aus dem Blick geraten. In einem anregenden Artikel hat der Staatsrechtslehrer Oliver Lepsius gerade darauf hingewiesen, dass der Kompromiss eine Technik des gegenseitigen Nachgebens ist: „Durch Kompromisse gibt man seine Ursprungsüberzeugung nicht preis, aber man verzichtet auf deren vollständige Umsetzung. Durch die Zustimmung, die man dadurch mit anderen erzielt, gewinnt man etwas, was man vorher nicht hatte: eine Mehrheit“ und damit Handlungsfähigkeit in einer Demokratie. Ein Kompromiss ist kein Konsens. Er wird nur auf Zeit geschlossen, bis der nächste kommt. „Unter der Herrschaft von Kompromissen sind daher alle freier, obwohl alle weniger bekommen als sie wollen:“
Natürlich müssen Parteien und Verbände die Interessen ihrer Klientel vertreten. Anstatt aber andere des Wortbruchs zu bezichtigen, könnten Mandatsträger und Verbandsvertreter in ihrem eigenen Übelebensinteresse den Nebensatz hinzusetzen, dass Wahlkampfversprechen in unserer politischen Ordnung unweigerlich gebrochen werden müssen. Der Kompromiss als Gewinn und „Sozialtechnik, um Meinungen und Überzeugungen in einer Demokratie in Entscheidungen zu verwandeln“.
Nichts gegen handfeste Debatten. Aber diese ohne mit suizidaler Emphase zu führen und damit denjenigen in die Hände zu spielen, die die Freiheit auf dem Altar der simplen Botschaften und vermeintlich einfachen Lösungen opfern wollen wäre klüger. Vielleicht hilft es uns allen, in der Weihnachtszeit innezuhalten, darüber nachzusinnen, was auf dem Spiel steht und mit anderen Vorsätzen ins neue Jahr zu starten.
In diesem Sinne wünsche ich Euch eine besinnliche Weihnachtszeit!
Euer Markus Baumanns
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