Hello from Hamburg,
neulich erzählte mir der geschäftsführende Gesellschafter eines mittelständischen Elektrotechnikunternehmens im Allgäu, dass er sich vor zehn Jahren entschieden habe, sein Unternehmen im Team zu führen. Er habe sich damals gefragt, warum er glaube, alleine alles zu wissen und die besten Entscheidungen treffen zu können. Seitdem ist er nur noch Mitglied der Geschäftsleitung und führt das Unternehmen als Mitglied eines hierarchiefreien Teams.
Die Liste der Argumente gegen ein kollektives Führungsmodell an der Spitze ist lang: Konflikte seien programmiert. Entscheidungsprozesse verzögerten sich wegen langer Diskussionen. Basisdemokratie in der Unternehmensleitung führe zu Konfusion und Orientierungslosigkeit im Unternehmen. Kollektive Verantwortung bedeute, dass sich keiner verantwortlich fühle. Im schlimmsten Fall komme es zu einer das Unternehmen gefährdenden Pattsituation. Marvin Bower, der als langjähriger CEO einst die Unternehmensberatung McKinsey groß gemacht hat, spitzt zu: „Power sharing never works.“
Ich bin überzeugt, dass das falsch ist. Und dass angesichts der Krisen- und Chancenkumulation, die wir zurzeit erleben, die Idee des einsamen Wolfs an der Spitze ausgedient hat. Allein schon die schiere Flut an Themen, die uns heimsucht, erfordert Teamarbeit, auch in der Leitung eines Unternehmens. Eine kümmert sich um die Technik, die zur Transformation des Unternehmens gebraucht wird, ein anderer um mehr Effizienz im klassischen Kerngeschäft, das die neuen Geschäftsmodelle bis auf weiteres finanziert. Lange Zeit fragte man sich bei der Besetzung einer Unternehmensleitung: Brauchen wir einen strategischen Kopf oder eher einen operativen Umsetzer? Heute brauchen wir nicht nur beides, sondern viele verschiedene Fähigkeiten auf einmal, wie die Strategieberatung Strategy& 2021 in einer Umfrage unter 515 Managerinnen und Managern aus aller Welt herausgearbeitet hat. Sie hat festgestellt, dass der größte Mangel im Fehlen erforderlicher Paradoxien liegt: die strategische Umsetzerin, die gleichzeitig integrierend und durchsetzungsstark ist. Der technologieaffine Humanist. Die bescheidene Heldin. Der global Handelnde, lokal Geerdete. Die Innovatorin, die die Tradition eines Unternehmens wahrt. Wir müssen in Netzwerken mit wechselnden Partnern arbeiten und gleichzeitig das Unternehmen zusammenhalten. Wir müssen Entscheidungen unter großer Unsicherheit treffen: ob wir hier hinein investieren oder dort, dieses ausprobieren oder jenes und wann wir Liebgewonnenes aufhören.
In der nachhörenswerten Eröffnungsansprache des diesjährigen Global Leadership Summit des CogX Festivals in London hat Rania, Königin von Jordanien, zu den Herausforderungen von Führung in unserer Zeit gesagt: „I used to think that the strongest leaders were the ones with the firmest convictions. Now I believe inviting doubt is how we test the strength of our convictions. (…) The greatest risks we face today is indulging in unchecked certainty.“ Zweifel in Entscheidungsprozessen verankern. Gewissheiten und Vorfestlegungen auf den Prüfstand stellen. Wie sollen notwendige Paradoxien anders als unter Gleichgestellten ausgelebt werden können?
Ernstzunehmende Langzeitstudien zeigen, dass Unternehmen, die von einem Team oder Co-CEOs geführt werden, signifikant mehr Wert schöpfen als die mit dem einsamen Wolf an der Spitze. Nicht nur im Durchschnitt, einige wenige schneiden signifikant besser ab. Wesentlicher Erfolgsfaktor laut dieser Studie: Solche Konstruktionen helfen, Egos gegenseitig in Schach zu halten.
Selbstverständlich braucht es Regeln, die ein Spitzenteam oder Tandem verinnerlicht und derer es sich laufend vergewissert: Alle müssen eine solche Konstruktion wollen, offen sein, zuhören wollen, bereit sein, das bessere Argument gewinnen zu lassen, Lust an der Auseinandersetzung haben und gleichzeitig zielorientiert sein. Es braucht eine klare, komplementäre Aufteilung von Verantwortlichkeiten und Aufgaben. Verbindliche Entscheidungs-, Konfliktlösungs- und Eskalationsmechanismen – das aus der Soziokratie kommende Konsent-Verfahren könnte genauso helfen wie die Verabredung, die Person gewinnen zu lassen, die zu einem Thema eine spürbar stärkere Meinung und Überzeugung hat. Genauso wichtig: in die Organisation mit einer Stimme sprechen. Eine Exitstrategie vereinbaren, derzufolge sich das Team im Guten trennen kann. Denn, das ist die Erfahrung des eingangs erwähnten Unternehmers aus dem Allgäu: Nichts ist von Dauer, ein Team und eine Organisation sind dynamische Organismen, die sich ständig verändern.
Wer gegen eine Peer-Konstellation an der Spitze ist, sollte sich fragen: Hält mein Ego das nicht aus? Was sagt das über mich und mein Selbst- und Führungsverständnis? Bin ich noch der Richtige für diese Zeit?
Während ich diesen Newsletter schreibe, wird mir klar: In meinen unternehmerischen und philanthropischen Aktivitäten habe ich instinktiv immer das Tandem oder Team gesucht und gefunden. Das ist nicht nur erleichternd, sondern macht einfach viel mehr Spaß.